Festrede zum 85. Geburtstag von Wilhelm Totok
Lieber Vilmos,
es ist mir eine Ehre und zugleich auch eine Freude, aus Anlass der Nachfeier zu deinem 85.
Geburtstag in einem kurzen Abriss deinen Lebensweg zu würdigen. Ich tue das als Freund, der dir seit
6 Jahrzehnten verbunden ist. In zahlreichen Begegnungen mit dir hat sich mir ein Bild von deiner
Persönlichkeit geformt, das vom ersten Zusammentreffen bis heute nichts von seiner positiven
Ausstrahlung eingebüßt hat.
Du wurdest als ältester von zwei Söhnen in einer kleinen Stadt in Rumänien geboren. Sie gehörte bis
1920 zu Ungarn und war Teil des Siedlungsgebietes jener Deutschen, der sogenanten Banater
Schwaben, die Anfang des 18. Jahrhunderts von Maria Theresia ins Land gerufen wurden. Die
Landschaft, in der du aufwächst, wird beherrscht von riesigen Mais- und Weizenfeldern unter
sengender Sommersonne. Im Winter jedoch wird alles zur schneebedeckten Steppe. Vom Vater her
ungarischer Abstammung, was sich schon im Namen Totok, der ungarischen Pluralform für die
Bezeichnung Slowake niederschlägt, und mütterlicherseits ein Nachkomme der ins Land gerufenen
Deutschen, verbringst du Kindheit und erste Jugendjahre in diesem Siedlungsgebiet. Dort wohnen
Menschen der unterschiedlichsten Nationalitäten. Ungarn, Deutsche, Slowaken und Rumänen leben
einträchtig nebeneinander. Man ist an ethnische und kulturelle Vielfalt gewöhnt und toleriert einander.
Die so praktizierte Nachbarschaft wirkt sich aus auf den Spracherwerb: im Elternhaus sprichst du
ungarisch, mit den Spielkameraden rumänisch, in der einklassigen deutschen Grundschule deutsch.
Den Wechsel von einer Sprache in die andere vollziehst du mühelos. Du hast die Sprachbegabung
deines Vaters geerbt, der sich leicht in mehreren Sprachen bewegt. Und so nimmst du ungarisch,
deutsch und rumänisch gleichsam muttersprachlich auf und beherrscht diese Sprachen bis heute.
Nach dem Besuch der Grundschule schicken dich deine Eltern aufs Gymnasium. Das befindet sich im
60 km entfernten Temesvar was deine Unterbringung in einem Internat erfordert.1940 bestehst du das
staatlich rumänische Abitur an der Schule in Temesvar, vor einer Kommission, der keiner deiner Lehrer
angehört. Nach einem sogenannten völkischen Dienstjahr für Angehörige der deutschen Volksgruppe
kannst du 1941 das Studium in Deutschland aufnehmen. Studienort ist die Universität Marburg/Lahn.
Hier und auch später in Wien widmest du dich den Fächern Germanistik, klassische Philologie,
Geschichte und Philosophie.
Nach dem Sommersemester 1944 fährst du nach Rumänien, um die Eltern zu besuchen. Während du
dich bei ihnen aufhältst, erzielt die Rote Armee einen tiefen Durchbruch im Süden der Ostfront.
Rumänien kapituliert, eine allgemeine Fluchtbewegung setzt ein, insbesondere auch innerhalb der
deutschen Volksgruppe. Du schließt dich ihr an. Auf höchsten Befehl werden die Flüchtlingsströme
nach Südungarn geleitet. Die Grenze nach Österreich bleibt ihnen versperrt.
Und nun ereignet sich etwas, was du als den befreiendsten Augenblick in deinem bisherigen Leben
empfindest: aufgrund des in deinem rumänischen Passe eingetragenen Reisevisums macht der an
der Grenze kontrollierende Feldjäger bei dir eine Ausnahme. Er genehmigt "in Gottes Namen", wie er
sich ausdrückt, den Grenzübertritt und die Weiterfahrt nach Wien. Das rettet dich vor dem Zugriff der
Roten Armee und ermöglicht die Fortsetzung des Studiums und den Verbleib in Deutschland.
Wieder in Marburg wird dir bewusst, welch starke Anziehung von der Philosophie auf dich ausgeht,
und du beschäftigst dich zunehmend mit philosophischen Fragestellungen. Marburg als damalige
Hochburg in der Vermittlung der Philosophie Kants ist ein guter Ort dafür. Und so bestimmt deine
Neigung zur Philosophie schließlich auch die Wahl des Promotionsthemas. Darin befasst du dich mit
dem Problem der Theodizee in der Gedankendichtung des 18. Jahrhunderts. Im Mai 1948 wirst du
zum Doktor der Philosophie promoviert.
Während dieser Zeit festigt sich in dir die Erkenntnis, dass sich deine Neigung zur Philosophie und zur
Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragestellungen am ehesten mit dem Beruf des Bibliothekars
vereinigen lässt. Aber die Verwirklichung dieser Vorstellung erscheint nahezu unmöglich. Das Land
Hessen stellt nur einen Bewerber für den wissenschaftlichen Bibliotheksdienst ein. Du erwägst
Ersatzlösungen und beginnst zwischenzeitlich mit der Ausbildung für den Lehrberuf an Gymnasien.
Doch dann bietet dir das Ministerium tatsächlich den einzigen Ausbildungsplatz an und ermöglicht den
Wechsel an den Bibliotheksdienst.
Nun ist der Weg frei für einen beruflichen Werdegang, der ganz deinen Bedürfnissen und deiner
Begabung entspricht. 1951 beendest du die Ausbildung und trittst dein Amt als Bibliothekar an. Kaum
im Amt entwickelst du eine weitreichende Initiative. Ausgelöst durch deine Erfahrungen während der
Ausbildung konzipierst du eine lehrbuchhafte Zusammenfassung der bibliographischen
Nachschlagewerke als Hilfe für angehende Bibliothekare. Die Bibliotheksleitung ahnt nichts davon.
Und so erscheint zur Überraschung aller im Jahre 1953 das Handbuch bibliographischer
Nachschlagewerke, durch das du mit einem Schlag in der Bibliothekswelt bekannt wirst, und das auch
einen ausgezeichneten internationalen Ruf genießt.
Und als 1962 die Neubesetzung der Direktorenstelle in Hannover ansteht, erinnert man sich an den
Autor des Handbuches und entscheidet sich für dich. Inzwischen hast du ein neues Vorhaben in
Angriff genommen: die Erstellung eines Handbuchs der Geschichte der Philosophie. Als Einzelband
geplant, wächst es sich aus zu einem monumentalen Werk von 6 Bänden. Damit und mit deinen
zahlreichen Vorträgen bis in die jüngste Zeit bezeugst du deine hohe, nie versiegende Kreativität.
Zugleich gelingt dir das erstrebte Miteinander von Beruf und Neigung. Mit der Ernennung zum Direktor
der Niedersächsischen Landesbibliothek beginnt dein so überaus erfolgreiches Wirken in Hannover.
An der neuen Situation reizen dich der hier in der Bibliothek ruhende Leibniz-Nachlass und seine
Erschließung.
Zugleich warten auch andere Herausforderungen auf dich:
•
die Bibliothek den modernen Erfordernissen anzupassen und
•
ihren Aufgabenbereich angemessen zu erweitern.
Bei der Umsetzung dieser Vorhaben entfaltest du Fähigkeiten, die bisher in dir schlummerten und nun
ein erfolgreiches Wirken gewährleisten. Du erweist dich als einfühlsamer Behördenleiter und
umsichtiger Administrator; handelst einfallsreich und vorausschauend und bleibst immer gelassen. Ich
nenne nur einige der von dir eingeleiteten Initiativen:
•
Die Schaffung eines Leibniz-Archivs zur Edition seines Werkes
•
Die Einrichtung der Leibniz-Forschungsbibliothek zur dokumentarischen Erfassung der gesamten
Sekundärliteratur über Leibniz
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Die Gründung der internationalen Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft mit Sitz in Hannover
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Die Einrichtung internationaler Leibnizkongresse
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Die Verwirklichung des Bibliotheksneubaus und die Wiedererrichtung des Leibnizhauses.
•
Und folgendes sollte nicht unerwähnt bleiben: du vergibst die Veröffentlichung der jeweils neu
entstandenen Leibnizbände an den Akademieverlag in Ostberlin. Damit lässt du in schwieriger Zeit
ein Stück gesamtdeutscher Kontinuität wieder aufleben.
Dein sicheres Urteil und deine unvoreingenommen Betrachtung aller Vorgänge machen dich zu einem
allseits geschätzten Berater der Landesregierung in kulturellen und wissenschaftlichen
Angelegenheiten. So überrascht es nicht, dass man dir auch den Vorsitz in der Leitung der beiden
wichtigsten Berufsorganisationen des deutschen Bibliothekswesens anvertraut. Bei der Wahrnehmung
dieser Funktionen wirst du zu einem maßgeblichen Mitgestalter der deutschen Bibliothekspolitik. In
Anerkennung deiner hierbei erworbenen Verdienste wird dir das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Ich möchte hier noch einmal den Blick zurücklenken auf die Bedingungen, unter denen du das
Studium zu Ende geführt hast. Für dich wie für viele Studierende ohne verwandtschaftlichen Rückhalt
in der Nähe des Studienortes nahm der Alltag in den Jahren 1946 - 1948 streckenweise die Züge
eines harten Existenzkampfes an. Studium und Lebensunterhalt mussten bestritten werden in einer
hoffnungslosen Wirtschaftslage. Eine sich ausbreitende Schattenwirtschaft und ein ausufernder
Schwarzmarkt wirken in den Alltag hinein. Du behilfst dir mit vielen Aktivitäten. Ein Jahr lang wirkst du
als Hauslehrer bei einer Arztfamilie in der Nähe Marburgs. Dann erteilst du Nachhilfeunterricht in
großem Stil und bereitest höhere Semester als Repetitor auf ihre Examina in Philosophie vor.
Schließlich erweisen sich die Care-Pakete eines fernen Onkels in den USA als wahrer Segen. Als
Nichtraucher nutzt du die in den Paketen enthaltenen Zigarettenstangen zur Tilgung sämtlicher
Ausgaben für die Unterkunft.
In dieser Zeit begegnen wir einander, dankbar, den Krieg heil überstanden zu haben. Und wir
empfinden unseren Status als Studierende als einen Vorzug, der uns, den Angehörigen einer
missbrauchten Generation, nunmehr gewährt wird.
Du gehörst einem Freundeskreis an, der wesentlich durch die persönliche Ausstrahlung und die
Initiativen von Irmgards Tante Hilde Gaul geprägt wird. Ich werde bald in diesen Kreis aufgenommen,
in dem man viel diskutiert und einmal wöchentlich in privatem Kreise in der Wohnung des Professors
mittelhochdeutsche Texte liest. In diesem Kreise begegne ich einer Studentin, die später meine Frau
wird.
Da auch ich so wie du eine starke Neigung zur Philosophie verspüre, bemühen wir uns gemeinsam
um den Zugang zu wichtigen philosophischen Texten. Wir befassen uns in zahlreichen Sitzungen zu
zweit mit Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und seiner Kritik der praktischen Vernunft.
Diese Bemühungen, Kants Gedankengänge nachzuvollziehen, entspringen zunächst dem Bedürfnis,
unsere philosophische Neugier zu befriedigen. Sie erfolgen zugleich in der Hoffnung, Möglichkeiten
einer allgemeinverbindlichen Ethik auf rationaler Grundlage zu erkennen. Beides verbindet uns stark
und formt die Basis für eine gegenseitige Wertschätzung, die sich schließlich in eine lebenslange
Freundschaft vertieft. Nahezu gleichzeitig treten wir ins Berufsleben ein. Unsere unterschiedlichen
Berufe führen jedoch zu einer geographischen Trennung, die erst 1964 beendet wird, als ich in
Hannover mit einer neuen Aufgabe betraut werde.
In dieser Zeit triffst du auf deine Ursula, mit der du die Ehe schließt und eine Familie gründest. Euch
werden Sohn und Tochter geboren, und du erwirbst ein Einfamilienhaus, um der Familie viel Raum zur
Entfaltung zu gewähren. Die Bindungen zwischen deiner und meiner Familie werden enger. Ilse,
meine Frau, wird die Patentante eurer Carolin. So erleben wir viel gemeinsame Freude. Wir erfahren
aber auch gemeinsames Leid. 1999 verstarben innerhalb weniger Monate beide Ehefrauen. Dass sie
den heutigen Tag nicht miterleben können, wirft einen Schatten auf diese festlichen Stunden. Der
Verlust unserer Frauen führt uns enger zusammen. Wir unternehmen gemeinsame Fahrten in den
Osten unseres Landes, zu dem wir eine Zuneigung aufgebaut haben. Diese Fahrten mit den
ganztägigen engen Kontakten bilden eine besondere Bereicherung. Sie liegt nicht nur im Erlebnis der
Weite der Landschaft und dem eigentümlichen Reiz, der von den verträumten Dörfern im Osten
ausgeht. Es kommt noch etwas anderes hinzu. Ich erlebe aufs Neue die Vorzüge deiner
Persönlichkeit.
Du erweist dich als unaufdringlicher Begleiter und kooperativer Mitgestalter. Und ich begegne erneut
deiner hohen Gesprächskultur. Du bist ein guter Zuhörer und fällst anderen nicht ins Wort. Du dringst
rasch zum Kern einer Sache vor und verfügst über ein ausgewogenes Urteil. Selten siehst du dich
genötigt, eine Behauptung abzuschwächen oder zurückzunehmen. Und auch, daß ich dich nie heftig
erlebt habe, gehört hierher. Mit der dir eigenen Gelassenheit bewältigst du jede Situation. Und noch
etwas: es ist schon beeindruckend, wie bescheiden du angesichts deiner Erfolge und Tätigkeiten
geblieben bist, und auch bedürfnislos - trotz wachsenden Wohlstandes. Beides hast du dir bewahrt
durch eine ständige Besinnung auf das, was wesentlich ist.
Daß du in den letzten Jahren in Irmgard eine dir zugetane, dich umsorgende Gefährtin gefunden hast,
erfüllt mich für euch beide mit Freude. Und so möchte ich dir heute für eine jahrzehntelange stets
verlässliche Freundschaft danken, mit der du mich beschenkt hast. Vielleicht gelingt uns ja noch
einmal eine Fahrt in östliche Landesteile mit einer Zwischenrast wie damals auf dem Wege zur Oder,
einer Rast unter blühenden Akazien, den Bäumen, die in deiner Heimat die Alleen säumen. Das wäre
schön!
Günther Podes
Hannover, am 16. September 2006
Günther Podes 2006,
Foto: privat