Gottfried Wilhelm Leibniz
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Historisches Porträt von Gottfried Wilhem Leibniz

Von Prof. Dr. Wilhelm Totok

Gottfried Wilhelm Leibniz wurde am l. Juli 1646 in Leipzig geboren. Sein Vater war Notar und Professor an der dortigen Universität. Leibniz studierte zunächst in Leipzig und Jena Mathematik und Philosophie, dann Jurisprudenz. Seine Lehrer waren Jakob Thomasius (Leipzig) und Erhard Weigel (Jena). Aus äußeren Gründen wurde er in Leipzig zur Promotion nicht zugelassen, worauf er sich nach Altdorf bei Nürnberg begab, wo er ein glänzendes juristisches Examen ablegte. Eine ihm sofort angebotene Professur schlug er aus und nahm eine Stelle bei Christian von Boineburg, dem Ersten Minister des Kurfürsten von Mainz an. Um den Kurfürsten auf sich aufmerksam zu machen, verfaßte er eine Schrift über die Reform des Rechtsunterrichts. Nach erfolgreicher Mitarbeit an dem Plan einer Neuordnung des römischen Rechts wurde er zum Rat am Oberrevisionsgericht zu Mainz ernannt. In Mainz arbeitete er eine Denkschrift an Ludwig XIV. aus, in der er diesem vorschlug, anstelle des geplanten Feldzuges gegen Holland die Eroberung Ägyptens und die Zerstörung des türkischen Reiches ins Auge zu fassen. 1672 begab sich Leibniz nach Paris, um dem französischen König seine Pläne persönlich vorzutragen. Ein politischer Erfolg blieb ihm zwar versagt, doch lernte er das dort blühende Geistesleben kennen, machte die Bekanntschaft zahlreicher bedeutender Persönlichkeiten, begann sich intensiv mit Mathematik zu befassen, studierte Descartes' analytische Geometrie und entwickelte seine eigene Methode der Infinitesimalrechnung, durch die er später in den unerfreulichen Prioritätsstreit mit Newton geraten sollte. 1676 folgte er einem Rufe des wissenschaftlich interessierten Herzogs Johann Friedrich als Berater und Bibliothekar nach Hannover. In dieser Stellung, die er bis zu seinem Tode innehatte, entfaltete er eine großartige, fruchtbare Wirksamkeit. Er wurde mit zahlreichen diplomatischen Missionen betraut und erhielt den Auftrag, eine Geschichte des Welfenhauses zu schreiben. Er bemühte sich um die Wiedervereinigung der christlichen Kirchen, entwarf zahlreiche Pläne zur Gründung wissenschaftlicher Akademien, machte Vorschläge zur Verbesserung des Bergbaus im Harz. Im Zusammenhang mit seinen historischen Forschungen unternahm er ausgedehnte Reisen, die ihn nach München, Wien und Italien führten. Er unterhielt während seines ganzen Lebens mit über 1000 Briefpartnern eine ungemein lebhafte Korrespondenz. Nach vergeblichen Bemühungen, eine Berufung nach Wien oder London zu erhalten, starb Leibniz vereinsamt am 14. November 1716 in Hannover. Leibniz ist eine der am vielseitigsten begabten Persönlichkeiten der abendländischen Geistesgeschichte. In nahezu allen Bereichen des Wissens entfaltete er eine schöpferische Tätigkeit. Seine Vielseitigkeit sowohl wie seine rastlose Tätigkeit und Betriebsamkeit hinderten ihn jedoch daran, seinem philosophischen System eine geschlossene Darstellung zu geben. Da er zudem an der Veröffentlichung seiner Schriften selbst wenig Interesse zeigte und sein Hauptwerk, die "Nouveaux essais sur l'entendement humain", erst Jahrzehnte nach seinem Tode, 1765, herausgegeben wurde, blieb die Kenntnis seines Denkens trotz der bereits im 18. Jahrhundert einsetzenden Wirkung fragmentarisch. Eine vollständige kritische Edition des Gesamtwerks liegt bis heute noch nicht vor. Leibniz war während seines ganzen Lebens vom Streben nach einer sicheren Methode des Denkens beherrscht. Als Vorbild diente ihm die Mathematik, ,,deren Licht [er] auch in die Philosophie" tragen wollte. Mit Begriffen sollte man ebenso rechnen können wie mit Zahlen, und in Fällen, wo Gewißheit nicht zu erreichen sei, sollte zumindest der Wahrscheinlichkeitsgrad einer Erkenntnis bestimmt werden können. Eine Methode müßte entwickelt werden, mit deren Hilfe neue Wahrheiten gefunden werden könnten (ars inveniendi). Schon als 20jähriger entwickelte er in seiner "Ars combinatoria" den Plan zu einem ,,Alphabet menschlicher Gedanken", in der Erwartung, daß durch Kombination der Buchstaben dieses Alphabets sowie durch Analyse der aus ihnen gebildeten Wörter ,,alles gefunden und beurteilt" werden könne. Die Schaffung einer besonderen Wissenschaft, der "scientia universalis" oder "scientia generalis". schwebte ihm vor, die die Prinzipien aller Wissenschaften sowie die Methode ihrer Anwendung enthalten sollte. Da die Begriffe und gedanklichen Operationen besonderer Zeichen ihrer Darstellung bedürften, müßten mit Hilfe einer "Characteristica universalis" alle Elementarbegriffe und ihre Beziehungen durch passende "Charaktere" zum Ausdruck gebracht werden. Durch Anwendung arithmetischer Operationen glaubte Leibniz, neue Beziehungen der Grundbegriffe auffinden zu können. In all diesen Versuchen zeigt sich sein Bestreben, eine Verbindung zwischen mathematischer und logischer Methode zu schaffen. Obwohl der Plan einer scientia generalis Utopie bleiben mußte, so hat er doch fruchtbare Impulse für die Entwicklung insbesondere der modernen Logik gegeben. Erkenntnistheoretisch nimmt Leibniz eine Mittelstellung zwischen dem Rationalismus und Empirismus ein. Er unterscheidet zwei Arten von Wahrheiten: solche, die nur durch den Verstand gefunden (vérités de raison), und solche, die nur durch Erfahrung erkannt werden (vérités de fait). Die reinen Erkenntnisse schöpft der Verstand aus sich selbst, sie sind eingeboren (ideae innatae). Die Einsicht in sie ist rein logischer Natur, da sie auf der Notwendigkeit des Denkens beruhen. Der Grund ihrer Annahme besteht in der Unmöglichkeit des Gegenteils. Zu ihnen gehören die theoretischen und praktischen Grundsätze sowie die Ideen des Möglichen und des Identischen. Die Vernunftwahrheiten lassen sich auf letzte Gründe oder Ursachen zurückführen, die in ihnen enthaltenen Begriffe bestehen aus Teilbegriffen von endlich hoher Zusammensetzung. Die Tatsachenwahrheiten beruhen demgegenüber auf Akten der Erfahrung. Der Grund ihrer Annahme liegt in der Tatsächlichkeit unserer Vorstellung von ihnen, die Möglichkeit ihres Gegenteils ist nicht ausgeschlossen. Die auf Erfahrung beruhenden, empirischen Sätze enthalten Begriffe von unendlich hoher Zusammensetzung, deren Verknüpfung nicht logisch begründet, sondern lediglich konstatiert werden kann. Das Kriterium ihrer Objektivität ist der räumlich-zeitliche Zusammenhang der Phänomene, der durch die Vernunftwahrheiten verifiziert wird. Die Vemunftwahrheiten beruhen sowohl auf dem Prinzip des Widerspruchs als auch auf dem des zureichenden Grundes, die Tatsachenwahrheiten auf dem des zureichenden Grundes. Sie folgen aus dem Grundsatz der Angemessenheit (convenance) oder der Wahl des Besten (choix du meilleur). Den Vemunftwahrheiten, Leibniz nennt sie auch ewige Wahrheiten, kommt absolute, unbedingte Notwendigkeit zu, während die Sätze der Tatsachenwahrheiten den Modus bedingter oder hypothetischer Notwendigkeit besitzen. Logik und Erkenntnistheorie von Leibniz stehen in engem, inneren Zusammenhang mit seiner Metaphysik. Ihre wesentliche Prägung erhält diese durch die begriffliche Bestimmung des Wesens der Substanz, die sowohl von der Descartes als auch von der Spinozas abweicht. Wahrhaft Seiendes kann nach Leibniz nur Eines sein, es muß die Merkmale der Spontaneität und Individualität besitzen und das Prinzip seines Tuns und Leidens in sich selbst haben. (Die Quelle, aus der Leibniz seinen Substanzbegriff gewinnt, ist die Selbstreflexion, das Selbstbewußtsein.) Wenn jedoch Wirkung und Tätigkeit die charakterisierenden Eigenschaften der Substanz sind, so muß ihr als wesentliches Constituens das Merkmal der Kraft zukommen. Die Einführung des Kraftbegriffs hat zur Folge, daß Leibniz im Gegensatz zu Descartes und Spinoza eine unendliche Mannigfaltigkeit von Substanzen postulieren muß. Als wahre Einheiten sind sie nicht materielle, sondern formelle Atome, gleichsam metaphysische Punkte (points metaphysiques), für die Leibniz seit etwa 1697 den Ausdruck Monade gebraucht. Die Monaden bilden das eigentlich Seiende, das ens reale, die ersten absoluten Prinzipien der Zusammensetzung der Dinge, und können auf natürliche Weise weder entstehen noch vergehen. Die individuelle Substanz ist zugleich unabhängig von allen anderen Substanzen, außer von Gott, wirkt nicht auf andere ein und erfährt auch von anderen keine unmittelbare Einwirkung, sie "hat keine Fenster". Der einheitliche Zusammenhang zwischen den Monaden wird durch einen ursprünglichen Bezug aller Monaden unter- und aufeinander bewirkt, für den Leibniz unter Rückgriff auf ältere Vorstellungen den Ausdruck prästabilierte Harmonie gebraucht. Jede Monade ist Ausdruck aller übrigen Monaden und bildet auf je eigene Weise einen lebendigen Spiegel des Universums. Dieses lückenlose und durchgehende Beziehungsgefüge der ,,fensterlosen" Monaden setzt jedoch die Existenz und Wirksamkeit einer höchsten Monade voraus, die kraft einer unbegrenzten Allmacht und Weisheit den stetigen Zusammenhang und die absolute Übereinstimmung aller Einzelmonaden bewirkt. Diese höchste Monade - Leibniz nennt sie Gott - verfügt nicht nur über eine adäquate Kenntnis von allem, was sich in den Monaden vollzieht, sie ist zugleich die Quelle aller Möglichkeiten und der Ort der "ewigen Wahrheiten". Sie ist der Ursprung sowohl der Kausal- wie der Zweckursachen und die Bedingung der Möglichkeit einer Versöhnung zwischen durchgehender Kausalerklärung des Geschehens mit gleichzeitiger teleologischer Weltbetrachtung. Zur theoretischen Untermauerung seiner Auffassung der metaphysischen Vereinbarkeit von Notwendigkeit und Freiheit sowie zur Begründung seiner Unterscheidung von Vernunft- und Tatsachenwahrheiten dient Leibniz der Begriff der "möglichen Welten". Gott hat diese bestehende Welt unter den unendlich vielen möglichen Welten, über die er in seiner Vorstellung verfügt, zur Wirklichkeit werden lassen, weil sie ein Maximum an Realität besitzt und die ,,beste aller möglichen" ist. Er mußte, dem Prinzip der Weisheit und Vollkommenheit folgend, diese Welt schaffen, nicht nur weil sie eine bewundernswerte Maschine, sondern weil sie zugleich auch moralisch der beste Staat ist. Während indessen die ewigen Wahrheiten in allen möglichen Welten, also absolut gelten, ist die Geltung der Tatsachenwahrheiten auf diese wirkliche Welt beschränkt. Die Notwendigkeit, nach der sich das reale Geschehen vollzieht, ist daher keine absolute, sondern eine bedingte. Leibniz glaubt, damit die mechanische und teleologische Weltbetrachtung miteinander in Einklang bringen zu können. (Auf die möglichen Gefahren für den Kontingenzcharakter des Geschehens, die durch die Nezessität Gottes, die Welt zu erschaffen, entstehen, wurde wiederholt hingewiesen.) Es stehen somit nicht nur die unendliche Zahl der Monaden, sondern auch die beiden Reiche, das der wirkenden Ursachen und das der Zwecke, miteinander in vollkommener Harmonie. Lückenlose kausale Determiniertheit des Geschehens und Freiheit des Handelns nach moralischen Zwecken schließen einander nicht aus. Die Gesamtheit der Monaden bildet eine kontinuierliche Stufenreihe des Seins, die von der höchsten Monade, dem ens realissimum, über die verschiedenen Grade der geschaffenen Monaden bis zu den untersten reicht. Da jede Monade die ganze Mannigfaltigkeit aller übrigen Monaden in sich spiegelt, ist sie Einheit und Vielheit zugleich. Die Verwirklichung der Mannigfaltigkeit in der Einheit wird durch die Vorstellung bewirkt. Diese ist entweder Perzeption, Apperzeption (bewußt gewordene Perzeption) oder Strebung (appétition), d.i. ein Trieb, um von einer Perzeption bzw. Apperzeption zur anderen zu gelangen. Je nachdem, ob die Monade klare und deutliche Vorstellungen oder dunkle und verworrene besitzt, wird ihr Aktivität bzw. Passivität zugeschrieben. Da eigentliches wahrhaftes Sein nur dem individuellen Einzelwesen, der Monade zukommt, ergibt sich die Frage nach dem Seinscharakter der sekundären Qualitäten (z.B. kalt, warm, trocken, feucht) und dem der primären Qualitäten (Materie, Größe, Gestalt). Leibniz gelangt zu dem Ergebnis, daß weder den einen noch den anderen absolute Realität zugesprochen werden kann, daß es sich vielmehr bei allen Begriffen der Physik um bloße Phänomene, allerdings um "wohlgegründete Phänomene" (phaenomena bene fundata) handele. Auch Raum und Zeit bilden hiervon keine Ausnahme. Der Raum besitzt (im Gegensatz zur Annahme Newtons) keine absolute Realität, sondern ist die Ordnung der gleichzeitig existierenden Dinge, die Zeit diejenige der sukzessiven Erscheinungen. Allerdings erhalten Phänomene dadurch Realität, daß sie in einem intersubjektiv feststellbaren gesetzmäßigen Zusammenhang untereinander stehen. Ihr Seinsgehalt kann jedoch graduelle Unterschiede (gradus realitatis) aufweisen. Da manche Substanzen in engerer Verbindung untereinander stehen als andere, beispielsweise als Lebewesen eine organische Einheit bilden, müssen die eine solche Einheit bildenden Monaden durch ein besonderes substanzielles Band (vinculum substantiale) zusammengehalten werden, das eine unio realis bewirkt, wodurch ein wahrhaftes unum per se entsteht, das mehr ist als bloß eine Ansammlung von Aggregaten (unum per accidens). Leibniz vertritt einen absoluten Vitalismus, der nichts Totes in der Natur kennt. Alles ist von Leben erfüllt wie ein "Teich voller Fische". Es gibt weder Geburt noch Tod, das Leben hat nicht Anfang noch Ende, es erfährt nur "Umgestaltungen". Aller gegenwärtiger Form ging eine andere Form voraus (Präformation). Auch im Bereich des Lebendigen herrscht das Prinzip der Kontinuität, wonach es zwischen den drei Reichen der Natur keine Sprünge, sondern nur stufenlose Übergänge gibt (natura non facit saltus). Die rationalistische Grundhaltung von Leibniz ist auch bestimmend für seine Ethik: der Wille wird durch die Vorstellungen bestimmt, und der Mensch handelt um so mehr sittlich, je stärker er durch klare und deutliche Vorstellungen bestimmt ist. "Frei sein heißt der Vernunft gehorchen." Religionsphilosophisch hält er an der Unsterblichkeit der Seele und der Beweisbarkeit der Existenz Gottes fest. Er glaubt an die allmähliche Realisierung des Gottesstaates auf Erden, dessen Gesetze keine anderen sind als die ewigen Regeln der Moral und des natürlichen Rechts. Leibniz hat viele Elemente der philosophiegeschichtlichen Tradition in sein System aufgenommen, er philosophiert aus Voraussetzungen und Motiven, die der geistigen Situation seiner Zeit entstammen, greift Fragen auf, die ihm der Geist der Epoche stellt, gibt Antworten, die nicht frei von Kompromissen sind. Dennoch trägt sein System den deutlichen Stempel genialer Originalität. Was seinem Denken die überzeitliche Wirkung sichert, ist die radikale Konsequenz, mit der er die Mathematisierung der Wissenschaft und Philosophie betreibt, sein Streben nach allgemeiner Logisierung des Seins, sein Glaube an die Angleichung der menschlichen an die göttliche Vernunft und das darauf beruhende Vertrauen auf den unaufhaltsamen moralischen und erkenntnismäßigen Fortschritt der Menschheit.  

Prof. Dr. Wilhelm Totok

Hannover, ohne Jahr
Gottfried Wilhelm Leibniz Historisches Porträt
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