Festrede zum 95. Geburtstag von Wilhelm Totok
Lieber Herr Dr. Totok, liebe Frau Kersting,
meine Damen und Herren,
Sie alle kennen und schätzen Professor Totok viel länger als ich, und die meisten von Ihnen haben
alles das, was er für Hannover und speziell für Leibniz hier bewirkt hat, bewusst miterlebt. Sie wissen
vielleicht auch, dass die damals freie Bibliotheksleiterstelle in Hannover im Jahr 1962 für ihn
deswegen besonders reizvoll war, weil in dieser Bibliothek seit 250 Jahren fast unbeachtet von der
Wissenschaft und der Welt der Nachlass von Gottfried Wilhelm Leibniz lag.
Leibniz aus dem Dornröschenschlaf zu wecken, das war – neben Neuordnung und Erweiterung der
Landesbibliothek und dem Bezug des neuen Gebäudes im Jahr 1976 – von Anfang an Professor
Totoks Anliegen. Ich brauche nicht daran zu erinnern, dass wir ihm die Einrichtung des Leibniz-
Archivs, der Leibniz-Forschungsbibliothek, die Gründung der Leibniz-Gesellschaft und der Zeitschrift
Studia Leibnitiana und auch die Erfindung der Leibniz-Kongresse verdanken. Das alles geschah ab
1962, dem Beginn seines Direktorats.
Im Herbst 1962 habe ich Sie, lieber Herr Dr. Totok, zum ersten Mal gesehen, nur schemenhaft durch
eine offene Tür, während meines Examens in der Hamburger Bibliotheksschule. Das von Ihnen und
Rolf Weitzel verfasste Handbuch der bibliographischen Nachschlagewerke war ja für mehrere
Generationen angehender Bibliothekare – und eben auch für unseren Kurs – eine Art von
Katechismus.
Ich erinnere mich, dass damals ein Raunen durch die Reihen von uns Prüflingen ging: Das ist der
jüngste Bibliotheksdirektor Deutschlands …und noch ohne Frau… Persönlich kennen gelernt habe ich
Sie erst 17 Jahre später, im September 1979, als ich Ihre Mitarbeiterin an dem Handbuch der
Geschichte der Philosophie für die Bände IV und V wurde.
Wenn Sie es erlauben, möchte ich mich heute ein wenig erinnern an diese Zeit von 1979 bis zum
Ende Ihres Direktorats 1986, sozusagen ein paar Momentaufnahmen aus der Erinnerungskiste der
Mitarbeiterperspektive hervorkramen.
Ganz allgemein habe ich im Gedächtnis eine harmonische Arbeitsatmosphäre im ganzen
Bibliothekshaus zu Ihrer Zeit. Auch wenn es unter einzelnen Kollegen vielleicht Streitigkeiten gab, so
herrschte doch insgesamt eine freundlich gelassener Ton, was sicher daran lag, dass Sie Ihren
Mitarbeitern von vornherein das Vertrauen entgegenbrachten, dass diese ihre Aufgaben pünktlich
und sorgfältig erledigten.
Ich habe das einmal während meiner Handbuch-Zeit direkt erlebt, als ich mit meinem Kasten der
Manuskriptkarten, bevor er in die Druckerei geschickt wurde, zur abschließenden Überprüfung zu
Ihnen kam. Ich erinnere mich, dass Sie mich nach einer bestimmten Karte fragten, die ich nicht finden
konnte. Als ich ganz nervös wurde, standen Sie auf und meinten: Ach, suchen Sie nochmal in aller
Ruhe – und verließen den Raum.
Eine weitere Momentaufnahme habe ich im Kopf von dem Tag, als beim Aufschlagen eines
druckfrischen Handbuch-Bandes meine Augen sofort an einem kapitalen Druckfehler hängen blieben.
Mit dem Buch unterm Arm machte ich mich sofort auf den Weg zu meinem Chef und dachte: Jetzt
wird er mich sofort feuern! – Das tat er nicht. Sondern, er sagte etwas, woran ich später noch oft habe
denken müssen und was man in diesen drei Wörtern zusammenfassen könnte: Nicht ärgern –
weitermachen!
Er formulierte es allerdings viel eleganter und – für mich tröstlicher. Wörtlich sagte er: Frau Dietsch,
das ist immer so. Man bekommt ein Buch aus der Druckerei, schlägt es auf und dann springen einem
die Fehler nur so in die Augen!
1986, als Sie sich aus dem aktiven Dienst verabschiedeten, aber der Bibliothek nicht ganz den
Rücken kehren wollten, wurde im Haus für Sie ein Plätzchen gesucht. Es fand sich in der obersten
Etage im Zimmer der Leibniz-Gesellschaft, in dem ich auch mit meinem kleinen Leibniz-
Forschungsbibliotheks-Katalog saß. An manchen Vormittagen waren wir allein im Zimmer, weil Herr
Herbst, der die Leibniz-Gesellschaft betreute, nur halbtags beschäftigt war. Wir beide haben damals
gelegentlich das eine oder andere sehr interessante und für mich bestimmt lehrreiche Gespräch
geführt, über Geschichte und Philosophie.
Ich erfuhr, dass Sie bereits als 17jähriger mit dem Tagebuchschreiben begonnen hatten, was Sie wohl
bis heute fortführen. Da muss eine stattliche Zahl von Bänden zusammengekommen sein. Schon als
junger Mann haben Sie viele philosophische Fragen in Ihre Tagebücher eingetragen, sind dann aber
mit der Zeit dazu übergegangen, vor allem Fakten festzuhalten. – Was für ein einzigartiges
Zeitdokument!
Von dem Zeitpunkt an, als Sie begannen, sich mehrere Monate im Jahr mit Frau Kersting in
Leverkusen aufzuhalten, verloren wir uns zunächst aus den Augen – bis zum Sommer 2009. Da
haben wir uns auf Ihren Vorschlag hin an einem schönen Juli-Nachmittag im Garten des Cafés an der
Marktkirche getroffen und haben zwei Stunden ununterbrochen geredet.
Ich war beeindruckt von den vielen interessanten Leuten, die Sie in Ihrem Leben persönlich kennen
gelernt haben: Das Verleger-Ehepaar Kippenberg, den Goethe-Forscher Ernst Beutler, Ernst Bertram,
der zum George-Kreis gehörte, Hans Carossa, Ernst Jünger, um nur ein paar Namen zu nennen.
Sie haben später einmal zu mir gesagt – es war im Zusammenhang mit dem Interview für Die
Gespräche vom Kriege –: Ich sehnte mich nach deutscher Literatur und Kunst.
Ich glaube, ich irre mich nicht, wenn ich sage: Es war immer Ihr großer Wunsch, vor allem in Ruhe für
sich selbst lesen zu können, zu forschen, in die Wissenschaft einzudringen.
Dass Ihnen, lieber Herr Dr. Totok, diese Freude an der Wissenschaft und Ihr sagenhaftes Gedächtnis
weiterhin erhalten bleiben, wünsche ich Ihnen von Herzen.
Und von Herzen danke ich Ihnen, dass Sie mich heute zu Ihrer Geburtstagsfeier eingeladen haben.
Besonders bewegt hat mich außerdem, dass Sie in Ihrer Einladung das Ergebnis einer kleinen
Geldsammlung anstelle von Geschenken dem Fontane-Kreis Hannover zugedacht haben, den ich hier
heute in der Nachfolge unseres verehrten Dr. Röhrbein vertrete. Herzlichen Dank auch dafür.
Ingrid Dietsch
Hannover, am 12. September 2016
Ingrid Dietsch 2016,
Foto: Ulrich Heymann